Kevin

Es gibt diese besonderen Zeiten im Familienleben, in denen du plötzlich einen weiteren Stuhl an den Esstisch stellen sollst, obwohl vermeintlich niemand darauf sitzt oder du neben einer zerbrochenen Vase stehst, dein Kind dich mit Unschuldsmiene anschaut und behauptet, dass es nichts mit der Sache zu tun hat, sondern dieser dubiose Freund, den du aber nicht sehen kannst. Bei meiner Tochter ist es ein kleines Schwein namens Hugo, das unter ihrem Bett lebt und allen möglichen Schabernack treibt, in Rob Biddulphs Bilderbuch „Kevin“ ist es ein großes, flauschiges, gelb-pinkes Wesen, das der Junge Max sich kurzerhand ausdenkt, um ihm die Schuld für einen heruntergestoßenen Teller zuzuschieben. Und weil diese Ausrede so wunderbar funktioniert, muss das Wesen Kevin gleich noch für all die anderen Verfehlungen in der letzten Zeit herhalten. Dass das jedoch nicht gerade fair ist und man die Verantwortung für sein Handeln auch übernehmen sollte, zeigt Rob Biddulph in seinem einfühlsamen Bilderbuch über eine besondere Freundschaft.

Und besonders ist die Freundschaft zwischen Max und Kevin allemal, nicht zuletzt weil sie grenzüberschreitend ist. Max erfindet Kevin als Ausrede, glaubt selbst nicht an ihn, bis er die Tür zu seiner Fantasie aufstößt und sich in plötzlich in Kevins fantastischer Welt wiederfindet. Biddulph lässt beide Welten vor allem durch die farbliche Gestaltung aufeinanderprallen. Sie sind auf den ersten Blick klar voneinander abgegrenzt, Max reale Lebenswelt ist in dunklen, gedeckten Farben gehalten, während die fantastische Welt von Kevin in hellen, leuchtenden Farben erstrahlt.

Es macht Spaß, mit Max diese Grenze zu übertreten und gemeinsam diese wunderliche Welt zu erkunden.

Rob Biddulph wirft in gewohnt humorvoller Art einen alltagsnahen Blick auf wichtige Themen in der kindlichen Entwicklung. Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Ehrlichkeit – es sind große Begriffe, die der Autor heranzieht, um sie dann aber mit beeindruckender Leichtigkeit in seiner Geschichte zu transportieren. Um sich in eine andere Person einfühlen zu können, ist es wichtig, sich in die andere Perspektive hineinversetzen zu können. Biddulph löst das hier meisterlich, indem er Max im wahrsten Sinne des Wortes einem Perspektivwechsel unterzieht.2022-06-23 10.34.28 In Kevins Welt sind ihre Rollen vertauscht, plötzlich ist Max der unsichtbare Freund und stellt allerlei Unsinn an. Als Kevin daraufhin Ärger von seinem Vater bekommt und sich traurig zurückzieht, beginnt Max zu verstehen, was es bedeutet, die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen. Das könnte belehrend sein, ist es aber gerade nicht, weil Biddulph stets so nah an seinen Figuren und der Geschichte an sich bleibt. Und die ist so clever aufgebaut, dass die Moral einfach mitschwingt, unaufdringlich, aber deutlich.

Auch textlich überzeugt Biddulph mit dem, was er gut kann: Er verfasst seine Geschichten in Reimen, die durch ihre schwungvolle Dynamik und Rhythmik auffallen. Hier lohnt sich das Vorlesen doppelt, denn es ist eine wahre Freude, die Worte laut aus seinem Mund fliegen zu lassen. Mit der Übersetzung durch Steffen Jacobs hingegen, ist es stellenweise etwas holprig, teilweise passt der Ton einzelner Wörter oder Phrasen nicht zu denen, die er an anderer Stelle gewählt hat und Manches lässt sich leider schlichtweg nicht übertragen (Von „Sid’s dinner was up on the table before, But now it’s an upside-down-tea-on-the-floor.“ zu „Max‘ Teller stand eben noch heil auf dem Tisch, Doch es ist nun mal so: Unsern Max ekelt Fisch!“). Zumindest hat er bei Letzterem Biddulphs nüchtern-humorvollen Ton getroffen.

Statt altklugem Gewitzel finden wir hier einen fein ausgeprägten Humor. Der Ton ist mal distanziert, mal sehr direkt, vor allem aber ist er durchdrungen von einer Liebenswürdigkeit für die Figuren und ihre Geschichte, dass man sich ihr nicht entziehen kann, selbst wenn man es wollte. Man muss den kleinen Rabauken Max und den sensiblen, gutmütigen Kevin einfach ins Herz schließen. Am Ende werden sie gute Freunde sein, Max und seine Fantasie.

Die Gestaltung der Geschichte ist nicht nur clever, sondern auch umwerfend schön. Die an sich recht schlichten Illustrationen weisen immer auch liebevolle Details auf, die dem Buch und seinen Figuren einen ganz eigenen Charme geben. Da ist beispielsweise Sid, der auch im Pyjama nicht seine Mütze mit Ohrenklappen absetzt oder man findet liebevoll eingebrachte Referenzen an Figuren aus Biddulphs anderen Bilderbüchern. Auch die Blumen, die Max seiner Mutter am Ende als Wiedergutmachung schenkt, finden sich plötzlich in ihren Haaren wieder. Das Vorsatzpapier , das zu Beginn noch mit gleich aussehenden Blumen gestaltet ist, erblüht am Ende in Form von unterschiedlich aussehenden, farbenfrohen Blüten. Besonders schön ist auch die Seite, auf dem der vormals unbelebte dunkle Spielplatz nun von divers gestalteten Kindern bevölkert ist, von denen jeder einen ganz eigenen bunten Fantasiefreund hat und der Hinweis, dass man damit nicht allein ist.

Rob Biddulph zeigt auch in seinem fünften Buch wieder sein ganzes Können. In gewohnt charmant humorvoller Manier hat er ein Bilderbuch über eine besondere Freundschaft geschrieben, in der Grenzen überwunden werden und aus Fehlern gelernt wird. Dafür braucht Biddulph keinen erhobenen Zeigefinger. Er braucht lediglich zwei herzerwärmende Figuren, den Rest findet man ganz beiläufig zwischen den Zeilen und in den hinreißenden Illustrationen.


Auf seinem YouTube Kanal „Draw with Rob“ zeigt der Autor und Illustrator in kurzen Videos Schritt-für-Schritt-Anleitungen, um beispielsweise Figuren aus seinen Büchern nachzeichnen zu können. Meine große Rabaukin hat sich darin versucht und ist so verliebt in ihren eigenen kleinen Kevin, dass es mich nicht wundern würde, wenn Hugo demnächst noch einen Mitbewohner bekäme.



  • Kevin
  • Autor*in: Rob Biddulph
  • Illustration: Ders.
  • ISBN: 978-3-257-01293-4
  • Diogenes Verlag
  • 32 Seiten
  • Hardcover gebunden
  • Erscheinungsjahr: 2021
  • ab 4 Jahren

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