Der Schnilf

Wann wart ihr eigentlich zuletzt im Wald? Seid ihr dort zufällig dem Schnilf begegnet? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit ihn kennenzulernen. Der Schnilf ist ein kleines Waldwesen mit Pilzhut auf dem Kopf, das voller Liebe für sich und seine Umwelt ist. Urplötzlich verliert er jedoch diese Liebe, und das mit heftigen Konsequenzen: Wo vorher noch Licht war ist nurmehr düstere Traurigkeit. Es gibt viele Bilderbücher über Traurigkeit, selten aber sind sie so wahrhaftig wie das Erstlingswerk von Kay Kender.

Die Themen Traurigkeit und Depression werden in vielen Bilderbüchern verhandelt. Und dabei scheint unter Autor*innen und Illustrator*innen gestalterische Einigkeit zu herrschen: Die Traurigkeit wird entweder dergestalt personifiziert, dass sie die Protagonist*innen als Wesen begleitet oder wenn sie kein konkretes Wesen sein soll, dann muss sie doch bitte als dunkle Wolke über dem Kopf der Protagonisten schweben. Das ist durchaus plausibel, angesichts der Vielzahl der veröffentlichten Bilderbücher zum Thema aber wenig innovativ. Vor allem aber verfehlt es eine ganz grundlegende Komponente der Traurigkeit: Abwesenheit in all ihren Facetten, Abwesenheit von Freude, das Fehlen von Kontrolle etc. Kay Kender wirft sich mit dem Schnilf mitten in diese Abwesenheit hinein und brilliert mit ihren klaren Illustrationen, in denen die Leerstellen eben nicht gefüllt werden, sondern bleiben, was sie sind. So steht der Schnilf auf einer Doppelseite gebeugt und traurig dreinblickend inmitten der weißen Fläche, während es auf der linken Seite nur heißt: „Doch eines Tages war die Liebe plötzlich weg.“ In dieser scheinbaren Einfachheit zeigt sich das feine Gespür der Autorin für ihr Thema und ihre Leser*innenschaft. Ob es die möglichen Gründe für die Traurigkeit des Schnilfs (eine fehlende Einladung, die Wolke, die sich vor die Sonne geschoben hat, als er in den See springen wollte…) oder die Auswirkungen (die Torte schmeckt nicht mehr, sein Lieblingslied macht ihn nicht mehr glücklich…) sind: Mit jedem kleinen Detail zeigt die Autorin, dass sie weiß, wovon sie spricht und wie man darüber spricht. Sie hat Witz und einen ausgeprägten Sinn für Situationskomik und beweist, dass man humorvoll und trotzdem mit der gebührenden Ernsthaftigkeit vom Thema erzählen kann.

Es ist beeindruckend, wie umfassend und kindgerecht dieses kleine Büchlein den Verlauf und die Mechanismen einer traurigen bzw. depressiven Episode zeigt. Denn dass die Gefühle des Schnilfs über eine simple Traurigkeit hinausgehen wird nur allzu deutlich. Er schließt die Vorhänge und weint eine Woche lang in die Finsternis hinein. Das Buch bietet die Gelegenheit in seiner Leichtigkeit über Traurigkeit zu sprechen, gleichermaßen jedoch auch die Möglichkeit über Depressionen zu sprechen. Damit schließt der Text für mich auch eine wichtige Lücke. In den meisten Bilderbüchern, die sich mit Depressionen auseinandersetzen, richtet sich der Fokus oft auf erkrankte Elternteile, im Hinblick auf Kinder geht es meist lediglich um Traurigkeit, die keine krankhaften Züge trägt. Was vielen nicht bewusst ist: Auch Kinder können an Depressionen erkranken. Mit dem Schnilf gibt es für diese Kinder eine Identifikationsfigur in Form eines kleinen schrulligen, sehr besonderen Waldwesens.

Natürlich vergisst die Autorin auch nicht die Phase der Heilung. Mit Hilfe seiner Freunde findet der Schnilf seine Liebe zu den Dingen wieder und blüht auf. Kender zeigt damit einfühlsam auf, wie wichtig es ist, auf seine Gefühle und die seiner Mitwesen zu achten. Und diese Gefühle werden auch nicht als schlecht verurteilt. Die Autorin zeigt, dass es ganz natürlich ist, Phasen zu erleben, in denen man sich vielleicht ungeliebt oder hilflos fühlt. Sie lässt ihre Leser aber nicht mit dieser Erkenntnis im Regen stehen, sondern zeigt, dass auf Regen irgendwann auch wieder Sonnenschein folgen kann, wenn man sich ein wenig helfen lässt.

Besonders und eigen sind auch die Illustrationen von Kay Kender, die sich irgendwo zwischen Mumins und Edna bricht aus einreihen lassen. Die charakteristischen schwarzen Konturen der Tinte lassen die Zeichnungen comicartig wirken. Der liebevolle Blick auf ihre Figuren zeigt sich auch in der Zartheit und Lebendigkeit der Illustrationen. Spielerisch haucht sie ihren Figuren durch Gesichtsausdrücke, die eine ganze Bandbreite an Emotionen abbilden, und ihren Körperhaltungen Leben ein. Das Zusammenspiel aus Ausdruck und Haltung ist so fein ausbalanciert, das man sich beim Betrachten hoffnungslos in den kleinen Kauz und seine Freunde verlieben muss.

Auch in der Farbgebung überlässt die Autorin nichts dem Zufall, so ist beispielsweise der Hut des Schnilfs in seiner glücklichen Phase rot, während er unter der Traurigkeit eher blau-gräulich anmutet. Und als wäre das alles noch nicht genug, finden sich auch typographische Elemente, die Inhalt und Form in Kontakt miteinander bringen. So folgt der Text beispielsweise einer konkreten Bewegung oder die Buchstaben hüpfen wie das Herz eines Protagonisten. Jedes einzelne Detail sitzt hier an seinem Platz und fügt sich harmonisch zu einer großen Einheit zusammen, dass es eine wahre Freude ist.

Der Schnilf ist eine zeitlose Geschichte, die Menschen jeden Alters begeistern kann. Wie aus einem Guss erzählt Kay Kender in eindrücklichen Bildern und witzig einfühlsamen Szenen von Hilflosigkeit, Traurigkeit und der Kraft der Freundschaft. Mit Mut zur Leerstelle und ganz viel Herz wagt die Autorin sich an den Kern der Traurigkeit heran und schafft damit etwas Außergewöhnliches. Sie macht etwas ganz und gar Unfassbares ein kleines Stück greifbarer. Es ist ein Buch für all jene, die schon einmal traurig waren und solche, die es irgendwann noch sein werden. Und wem das alles zu schwermütig scheint, dem sei gesagt: Egal, wie groß die Botschaft am Ende auch sein mag, letztlich erzählt Kender auch einfach die zauberhafte Geschichte eines schrulligen Wichts, dem man von Herzen gern folgt.

Dieses kleine Büchlein ist wie der zarte Lichtstrahl am Ende einer großen Traurigkeit.


  • Der Schnilf
  • Autor*in: Kay Kender
  • Illustration: Dies.
  • ISBN: 9783863913816
  • Voland & Quist
  • 100 Seiten
  • Hardcover gebunden
  • Erscheinungsjahr: 2023
  • ab 3 Jahren

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